ZELTEN_Zacherlfabrik


ZELTEN AM VERSCHWUNDENEN UFER

Concert/Soundwalk/Performance/Ecologies
Duration 70 minutes
Conception/music/text by Pia Palme

First performed 10. + 11. Sept. 2022, 5 pm
@Zacherlfabrik, Nusswaldgasse 14, 1190 Wien
, inside & outside in the garden

With airborne extended
Caroline Mayrhofer, recorders/Elena Gabbrielli, bass flute/Tina Žerdin, harps/Sonja Leipold, harpsichords

Manuel Alcaraz Clemente, percussion
Pia Palme, bass recorder & voice performance
Thomas Gorbach, sound design
Elisabeth Flunger, dialogist & research, assistance
Ballons: Irene Zahrl www.luftballon.at
Installations by Palme & Flunger

Photos by Markus Gradwohl

ZUM STÜCK

Eine Arbeitshalle mit nackten Ziegelwänden. Am Gebäude entlang führt ein unregelmäßig gepflasterter Weg abwärts in einen Park. Wildwuchs, alte Bäume, Efeu wuchert. Dunkelgrüne Schleier, dahinter verborgen die Ahnung einer anderen Welt, einer anderen Zeit. Schattiger Waldgrund und eine Landschaft mit Bach. Von Stadtplanern im späten 19. Jahrhundert eingehaust, fließt das Wasser – der Arbesbach – heute tief unter der Erde. Im Garten atmet feuchtkalter Hauch aus einem Schacht. Wenn man tief hinein hört, lassen sich Bach und Wald noch erspüren. 

Die Performance ZELTEN AM VERSCHWUNDENEN UFER bringt Natur und Architektur, Menschen, Geschichte, Instrumente, Materialien, Texte und Musik zusammen. Klang ist überaus flüchtig; Vergänglichkeit als Grundzustand des Seins wird zur kompositorischen Idee. Ein Zelt aus Papier erinnert an das nomadische Dasein, an die Sehnsucht nach Ruhe und Raum auf einer Reise. Rauschen und Murmeln. Worte und Geschichten steigen auf, Schatten der Vergangenheit – oder aus einer Zukunft? – werden Teil des Stückes, eine fragile Ökologie entfaltet sich. Horchen, riechen, tasten, sehen, träumen. Sich bewegen oder still sitzen. Sich verlieren oder finden. Drinnen und draußen, nach Lust und Laune.

Dank an das BMKÖS Österreich, an die Kulturabteilung der Stadt Wien und an die SKE der austro mechana für die Förderung dieses Projektes.

 

 

Diesen Text schrieb ich für das Stück:

NOCH RADIKALER
Eine Anrufung (Zacherlfabrik 2022)

Stimmen, seid gerufen
Aus der Stille der Erinnerung
Stimmen, seid gerufen
Aus der Stille dieses staubigen Ortes
Stimmen, seid gerufen
Aus der feuchten Erde

Stimmen, seid gerufen
Aus der gemeinsamen Vergangenheit
In der alles verschwunden sein wird

Hinter dem konfusen Lärm der Gegenwart
Höre ich euer Murmeln
Ich höre euch, die Alten im Verborgenen

Dort hinter dem Glanz der sichtbaren Welt
fließt ein Bach im dämmrigen Wald
Munteres Wasser
Unter hängenden Zweigen versteckt
Rauschen murmeln
Nass und kühl

Stimmen, seid gerufen
Vom verschwundenen Ufer
Kommt herbei!
Kommt herbei, ihr Herrinnen des Wassers!
Kommt herbei, ihr Fürstinnen des Waldes!
Kommt herbei, Gebieterinnen des Rauschens!
Kommt herbei, Gebieterinnen der Mikrobiologie!
Greift ein!

Ihr regiert den Planeten, zu unserem Glück.
Greift ein, am Ende sei ihr es, die herrschen und nähren.
Jede Zelle ist euch untertan.

Kommt herbei aus dem Verborgenen,
aus den schmutzigen Tiefen von Zeiten und Räumen,
Jenseits der Mauern
Unter der Erde
Aus den gemauerten Röhren
Unter den Wurzeln

Kommt mit eurem Gefolge von Kröten und Fröschen
Bringt die flinken Fische und gepanzerten Krebse mit!
Bringt wimmelnde Käfer, Spinnen und Libellen,
Schnecken
Und die schnellen Schlangen, die sich bewegen wie lebende Seile
Knoten sind geknüpft und aufgelöst
Geschlichen um Hände, Füße,
Gliedmaßen, Brust und Kopf
Verbunden
Aufgerollt abgerollt

Tiere kommen wenn sie eure Stimmen hören,
Vögel schwirren um die seichten Lacken.
Bist eins geworden mit Moos und verblichenem Laub
Vermodert im Netz des Kommens und Gehens.

Bringt uns die feurigen Salamander wieder und die dicken smaragdgrünen Echsen!
Seid gerufen!

In diese Halle
Unter dieses Dach
Seid gerufen!
Kriecht durch unsere Ohren
Unter unsere Haut
Tanzt mit unseren Gedanken
Eure Sprache klingt fremd
Aber wir verstehen eure Geräusche
Euer Wispern
Flüstern

Könnt ihr uns hören?

Ffffffremd sind wir hier
An diesem Ort sind wir nur vvvvvorübergehend zu Hause
Andere haben hier ihre wahnwitzig wunderlichen Träume verwirklicht
Vvvvor unserer Zeit.

Draußen im verfallenen Brunnen sprudelt die kleine Quelle weiter
Vermost im Algenbad
Sickert rinnt
Verliert sich im dunklen Schacht
Durch Kanäle,
Läuft eingehaust unter Straßen und Häusern
Weiter zum großen Fluß
Quillt heraus aus dem Rohr
Dort wieder unter freiem Himmel
Unter Brücken und durch Schleusen
Schaukelt das Wasser und nimmt die verlöschende Erinnerung mit

Die Erinnerung an den Ursprung oben im Wald
Quellsumpf im Grünen
An den munteren Bach
Oder war es doch ein Meer, ein Strand, viel früher?
Bleiben wir im Anthropozän
Und bei der Erinnerung an Menschen, die Vieles bewegten und wieder verloren
Beraubt vernichtet ausgelöscht

Bei der Erinnerung
An weite Gartenlandschaften
Gepflegte Parks
Baumriesen sind Zeugen
Gesetzt und umsorgt von Gärtnern.
Eure Stimmen sind gerufen!
Erzählt!
Erinnerung eingraviert in alte DNA
Zellgedächtnis bewahrt Daten
Präzise über Jahrhunderte.
Erzählt von Menschen, Städten, Wetter, Krieg und Frieden,
Vom Lauf der Welt
Eure Stimmen sind gerufen!

Hört ihr uns auch?
Alte Geschwister, seid gerufen!

Diese Anrufung ist politisch oder schamanisch oder wissenschaftlich zu verstehen
Alles trifft zusammen
Wie die Wasserläufe im großen Fluss
Vernetzt
Verwoben
Verwest
Verwachsen

Führt uns
Zum Dom und zu kaiserlichen Palästen,
Zu prächtigen Parks und barocken Schlössern
Dächer gekrönt mit Reihen von Statuen
Die zeigen in den Himmel
Auf Wolken, aus denen so dünn Regen gefallen ist in diesem Sommer
Zeigen auf den Mond in der Nacht

Nehmt unsere Stimmen mit
Zu Museen voll altem Kram und Bildern,
Steinen und ausgestopften Tieren,
Zu Geisterbahnen, Auen und schattigen Wäldern und Wiesen

Nimm unsere Stimmen dorthin mit
Und rufe die Herrinnen des allgegenwärtigen Lärms,
Die lauten Schwestern!
Von Autos, Zügen, Straßenbahnen
Schiffen und stinkenden Pferden
Kommt her, ihr wilden Schwester!
Aus Geschäften und Einkaufszentren
Aus Cafés und Märkten,
Von überfüllten öffentlichen Plätzen
Voll Menschenmassen und Touristinnen
Kommt her, ihr Verführerinnen!
Lasst die billigen Täuschungen sein, die Fakes und Betrügereien,
Göttinnen des kapitalistischen Konsums,
Zieht eure [massengefertigten] lächerlichen Lederhosen und Dirndl aus!
Finanzielle Aneignung kennt keine Grenzen
Lasst eure Gier und Wut zurück,
Ihr schamlosen Schwestern!

Hört auf uns und kommt hierher!
Wilde Schwestern!

In diese verblichene Halle mit eisernen Säulen
Seid gerufen!
In den verwachsenen Park
Seid gerufen!
Wir machen für euch Musik und Lärm
Seid gerufen!

Wir haben ein Zelt gebaut für euch
Greift ein!
Ein Zelt aus Papier so leicht wie der Wind
Greift ein!
Zerbrechlicher als Gedanken und Worte und luftig wie Gefühle
Greift ein!

||: Kommt herbei! :|| 3x wiederholen

Fließt mit meinen Atem
In dieses hölzerne Instrument
Tanzt hinein und hinaus durch diese Öffnungen
Tanzt auf diesen Klappen
Tanzt mit meinen Fingern, Fingerkuppen,

In den Hohlräumen im Inneren taumeln Klänge und Worte
Tanzt mit meiner Zunge
Tanzt in unseren Köpfen
Tanzt in unseren Herzen
Tanzt in meiner Stimme

Ihr lauten Schwestern,
Versammelt euch in diesem Stück Holz
Gebärdet so wild wie ihr nur wollt.
Durchstreift diesen Spielplatz aus
Holz Metall
Lippen Fingern Fleisch
Blut Schmerz Knochen
Zähnen Sehnen Nägeln
Ohren Gehirn Gedanken
Leidenschaft
Papier Haut
Hitze Sehnsucht
Luft Ballons
Zelt Schrift
Ein Paradies in der Vorstadt
Alles für euch!

Nehmt uns mit
Stimmen der Erinnerung

Feiern wir
Einen neuen Anfang
Feiern wir
Freiheit
Noch radikaler
Von nun an