ESCR #17

27/11 Heimat, Sicherheit und Illusion.

Ich komme zu einer Anhöhe. Von der Wiese aus, hinter der Hügelkuppe, hat man einen schönen Blick aufs Yspertal. Ich wandere im Waldviertel, den Weg kenne ich gut. Jedesmal noch hat mich der Ausblick erfreut, besonders der Gedanke an das feine Gasthaus mit den zwei alten Birnbäumen davor, das an der Landstraße dahinter steht, weckt Erinnerungen: Klänge, Gerüche, Wärme nach einem kühlen Tag im Freien. Wohlige Erwartung beschleunigt meine Schritte.

Soweit die Fiktion. In Wirklichkeit bin ich immer noch auf der Insel Örö, fünf Meter über dem Meeresspiegel. Wenn ich weitergehe, weicht die Wiese einem Moospolster und Wacholderbüschen. Runde Granitfelsen fallen sanft zum Wasser ab. Der Blick weitet sich übers Meer. Ich sehe viele benachbarte Inselchen in allen Größen, soweit mein Auge reicht. Es gibt keine Landstraße, keine Birnbäume, und das nächste offene Restaurant ist 12km entfernt – am Festland in Kasnäs.

Immer wieder komme ich auf meinen Inselstreifzügen zu Plätzen, wo ich plötzlich ein Gefühl von Vertrautheit spüre. Kleinräumige Landschaften kommen mir mit einem Mal bekannt vor. Meine Wahrnehmung verbindet sich mit der Erinnerung, Illusionen verschleiern die offensichtliche Realität. Ich gebe diesen Orten geheime Namen: Waldviertel, Raxweg, Wienerwaldweg. Die Illusion hält nur an, solange ich den Blick eingrenze, nicht hebe. Manchmal spiele ich damit.

Ich beobachte, wie zugleich mit der Verschiebung meiner Wahrnehmung Erwartungen und Vorurteile an den jeweiligen Ort aufsteigen: ich kenne mich hier aus. Eine innere Sicherheit stellt sich ein, ein Eindruck von In-sich-ruhen. Hier bin ich nicht nur sicher, hier bin ich… Daheim? Verwurzelt? Entspannt? Gehalten? Bei mir/bei Freunden/wo ich verstanden werde? Selbst die Sprache verstehe? Den Weg kenne? Weiß, was mich auf der Speisekarte erwartet? Steckt hinter der Illusion vertrauter Umgebungen eine Sehnsucht nach so etwas wie Heimat? Wünsche ich mir, nicht ständig Unbekanntes entschlüsseln zu müssen? Bedeutet Heimat Sicherheit, und weniger Anstrengung – weil ich in der Fremde meine Wahrnehmungen dauernd scannen muss, ob auch alles sicher ist?

Erinnerung ist immer eine Form der Imagination. Erinnerung und Imagination sind miteinander verbunden. Wahrnehmung ist keinesfalls passiv, meint Eric Kandel, Neurowissenschafter und Nobelpreisträger (Eric Kandel, 2014, Das Zeitalter der Erkenntnis. München, Pantheon Verlag). Im Vorgang der Wahrnehmung wird die Welt aktiv und kreativ hergestellt. Ich habe die Wahl, meinen Blick einzugrenzen oder zu weiten. Wie Siri Hustvedt (2013, Living, Thinking, Looking. London, Hodder & Stoughton) schreibt:

“We don’t just digest the world; we make it.”