ERSC #1

30-31/10
Helsinki umarmt mich kräftig und kalt.

Ich entdecke einen Ort namens Thinkcorner. Moderne Holzarchitektur, einladend, über drei Stockwerke hinweg. Eine Art Wohnzimmer, sagt man mir, für Denkende, für die StudentInnen und jedermann zugänglich, als Teil der Universität Helsinki, konsumzwangfrei, komfortabel. Wegweisend. Tische, Arbeitsplätze, Sofas, Sitzkissen, zahlreiche Steckdosen. Warm. Alles da, was zum Arbeiten nötig ist.

 

Da bis Monatsende eine Publikation als Beitrag für ein Buch fertigstellt sein soll, kommt mir dieser Zufluchtsort gerade recht. Mit dem Titel “Performing Gender as Polyphony”. Das Thema ist auch hier wieder Hinein-hören und Re-komponieren; beschäftigt mich schon länger.

Ich kann hier sofort gut arbeiten. Bin jeden Tag ein paar Stunden da. Apropos Gender: die hier üblichen Multigender-inklusiv Toiletten könnten wir in Österreich auch übernehmen. Apropos Denkraum:

 

Come as you are, and cooperate

Das könnte das Motto für das öffentliche Schwimm- und Saunabad sein, das ich heute am Damentag besuchte. Herren und Damentage wechseln ab. Schuhe draussen abstellen und hinein in die ehrwürdigen Hallen. Man bringt ein Handtuch mit oder mietet eins, mehr braucht Frau nicht. Die Hausordnung erlaubt Schwimmen: in herkömmlicher Badekleidung, im Burkini oder nackt. Vormittags frequentieren scheinbar vor allem Studentinnen und Pensionistinnen das Haus, zahlreiches Kommen und gehen. Die Mehrzahl zieht nackt ihre Runden, in drei Bahnen, wohl geordnet immer auf der linken Seite hin, rechts zurück. Der einzig bekleidete Mensch und Mann (in Rot) ist der Bademeister. Mit stoischer Miene betrachtet er aus seiner Glaskabine das Geschehen, macht hie und da Rundgänge durch die Duschen. Die zwei Saunen sind spartanisch gefliest, erfüllen bestens ihren Zweck. Die Stimmen der Frauen und ihre fremde Sprache umgeben mich. Das Wasser plätschert.

Der Musikpavillion steht im Winter leer, denn in Zeiten wie diesen ziehen sich selbst Hunde warm an. Morgen früh gehe ich zu Fuß mit 48 kg Gepäck zum Busbahnhof. Instrument, Koffer, Rucksack mit einem Teil der Lebensmittel. Um 6:50 Abfahrt Richtung Örö.

 

28–29/10 Im Transit

 

Zeitgleich mit dem Eröffnungskonzert von Wien Modern besteige ich den Flieger.

Die letzten Tage in Wien war ich mit Vorbereitungen für die Reise beschäftigt. Die Frage “Was nehme ich auf eine Insel mit?” bekommt beim bevorstehenden Projekt eine eigene Bedeutung. Örö ist eine nur schwer erreichbare Insel im finnischen Archipelago, im Spätherbst/Frühwinter. Kleidung? Schuhe? Arbeitsmaterial? Was brauche ich zum Leben, vier Wochen lang? Vor allem: Proviant, alles will gut geplant sein.

Ich wache mitten in der Nacht auf und meine Gedanken rasen: wie transportiere ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln 40kg Gepäck (inklusive Instrument und etwas Elektronik) und zusätzlich Lebensmittel für zwei bis vier Wochen? Noch einen Rucksack, wie schwer kann ich tragen? Batterien, Powerbank? Adapter? Was mache ich, wenn ich krank werde? Die Kälte, die Entfernung…welche Medikamente sollte ich dabeihaben? In meinem normalen Alltag machen mir diese Dinge kein Kopfzerbrechen; in der Stadt ist doch alles gut erreichbar, alles ist zu haben. Jetzt entdecke ich das Gefühl der Unsicherheit, wie ein Nebel zieht es herauf.

Der Transport von größeren Instrumenten erfordert zusätzliche Logistik. Kraftaufwand sowieso, und Verhandlungsgeschick. Damit habe ich Erfahrung. Für gewöhnlich nehme ich wegen meines Instrumentenkoffers Diskussionen mit dem Bordpersonal in Kauf, Nach mehr oder weniger intensiven Verhandlungen darf ich das Instrument als Cabin baggage im Gepäckfach verstauen. Das geht sich gut aus. Wichtig: verwende in Diskussionen mit Fluglinien im Zusammenhang mit Gepäck niemals das Wort “Kontrabass”. Das klingt nach riesig groß und die Antwort ist “geht nicht”. “Blockflötenkoffer” kommt besser an. Allerdings wurden die Airlines zuletzt restriktiver. Diesmal wollte ich nichts riskieren und habe einen Sitz extra für mein Instrument gebucht. Sicherheitshalber. Ich werde allein als erste an Bord gebeten, noch vor der Priority Class. 4’33” erlebe ich sozusagen in der leeren Kabine. Später nimmt schräg gegenüber ein finnischer Dirigent Platz. Er studiert den Flug hindurch völlig konzentriert Partituren neuer Musik. Eine nach der anderen entfaltet er im Großformat, bis in den Mittelgang hinein. Ich fühle mich wohl unter Menschen, die mitten im Fluglärm für (neue) Musik arbeiten.

In einer Stadt, die ich nicht kenne, mache ich am Liebsten ausgedehnte Spaziergänge. Ich lasse mich dabei treiben und wandere ziellos herum. Mit Sicherheit entdecke ich dann interessante Dinge. Orte, Objekte, Gebäude, Menschen, Tiere. Die Stadt entfaltet sich im absichtslosen Gehen wie von selbst.

Diesen Abend ist in Helsinki die Luft frisch, gesund und kalt. Bemerkenswerte Architektur zieht mich in ihren Bann. Stumm und ruhig halten die Riesen am Eingangstor zum Bahnhof ihre Lichter über den Platz. Sie wirken ebenso konzentriert wie der finnische Dirigent bei der Arbeit. Ich fühle mich beschützt und bewacht, von so viel steingewichtiger Freundlichkeit.

Licht hat im Norden eine besondere Bedeutung. Man gibt das Licht in die Obhut von Riesen, damit es gut bewahrt bleibt, in dunklen Zeiten.

 

From Örö Island to Wien Modern
November 1st to 30th
with sounds, texts, video & (live)performance

in cooperation with Wien Modern 31
and the Örö Residency Programme

Mit Sound, Text (Deutsch, Englisch),
Video und (Live) Performance

Dank an Örö Residency Programme,
SKE Fonds für die Förderung der Arbeit.

«Einen Monat lang lebe und arbeite ich auf der Festungsinsel Örö, einer geschichtsträchtigen Hochsicherheitszone und einem einsamen Naturpark im finnischen Archipel. Ich erkunde die Umgebung samt der militärischen Relikte, performe mit oder ohne Instrument, baue Installationen, filme und horche, forsche, schreibe und komponiere im Blockhaus. Auf meinem Blog kann man mich täglich begleiten, mitkommen bei Streifzügen durch die frostige, dunkle Landschaft – Tang riechen, Metall fühlen – das kalte Meer rauschen hören und dabei gemütlich daheim im warmen Zimmer sitzen.

Wie geht es mir als Komponistin in der Einsamkeit, angesichts der Relikte einer kämpferischen Gesellschaft? Fühle ich mich sicher? Was bewirken Kampf und Krieg in meinem Arbeitsvorgang? Was macht die Gefahr mit meiner Musik? Ist da ein Kontrast von männlich-weiblich mit im Spiel? Und was hat das alles mit Wien Modern zu tun? Mit Sicherheit gibt es die Sauna, zum Glück und zum Aufwärmen.»